Kapitel 5: Ade und der Löwe

Ade Zerbo lebte mit seiner Familie in der weiten Savanne von Zaire, einem Land in Afrika. Er war sehr stolz auf das, was er bisher in seinem Leben geleistet hatte, denn mit 10 Jahren war er der jüngste Ziegenhirte des Dorfes.

Und die Aufgabe des Ziegenhirten war sehr, sehr wichtig. Die Tiere waren der Grundstein für die Ernährung des Dorfes. Jeden Morgen gingen die Frauen zu den Ziegen und melkten sie. Den größten Teil erhielten die Kinder, der Rest wurde für das Essen verwendet. Das Fleisch wurde gerecht geteilt und gegessen.

Wenn die Herde nicht zusammengehalten wurde oder eines der Tiere starb, war das ganze Dorf davon betroffen.

Eines Tages war Ade wieder einmal allein mit seinem Teil der Herde an einem Wasserloch, das gut fünf Kilometer von dem Dorf entfernt lag. Ruhig döste er am Ufer des kleinen Sees und sah den Tieren zu.

Auf einmal wurde die Herde unruhig und nervös. Irgendetwas war in der Nähe, das sie erschreckte. Ade war sofort auf den Beinen und hielt seinen Speer in den Händen. Sofort versuchte er, die Herde zusammenzutreiben, was ihm jedoch nicht gelang.

Kaum hatte er den größten Teil der Herde zusammen, da brachen zwei Jeeps und ein klappriger Lastwagen durch das Unterholz, das das Wasserloch umsäumte, und fuhren mitten durch die Herde. Dabei wurden einige der Ziegen überfahren.
Ade war außer sich. Wütend ging er auf die Wagen zu und fuchtelte mit seinem Speer herum.

"Was fällt euch ein, meine Tiere zu töten; sie haben euch doch nichts getan."

Ein breitschultriger Weißer stieg aus dem Jeep, er überragte den Jungen um einen guten Meter. Seine Gestalt war furchterregend.

Seine Stimme war tief und furchteinflößend: "Halte deinen Mund, Kleiner, oder ich schlage dich grün und blau. Sei froh, dass wir nicht Dich umgefahren haben. Du weißt, dass dieses Wasserloch für eure Herde verboten ist. Also, was tust du dann hier?"

Ade nahm seinen ganzen Mut zusammen und den Speer zur Seite, als er antwortete: "Sie wissen so gut wie ich, dass unsere Brunnen seit ein paar Monaten kein Wasser mehr spenden. Wir müssten verdursten und die Tiere auch. Die Trockenheit dauert schon viel zu lange." Dabei deutete Ade in den Himmel und sprach weiter, "es wird Zeit, dass die Mutter Erde uns Regen schenkt."

"Was erzählst du da. Die Mutter Erde ist doch wieder nur ein blödes Märchen. Verschwinde jetzt hier und lass uns in Ruhe. Gleich müsste eine Herde von Elefanten hierher kommen, um zu trinken."

Bei den letzen Worten drehte der Mann sich zu seinen Kameraden in den Autos um und fing an zu grinsen.

Ade wußte nicht, was daran so lustig war, ging auf seine Herde zu und führte sie in Richtung Dorf.

Er war noch nicht lange unterwegs, als er die Schüsse hörte.
Die Weißen waren Wilderer und töten die Elefanten, dachte er, trieb seine Herde zusammen und lief den Weg wieder zurück.
Er versteckte sich in dem Dickicht und sah den Männern zu, wie sie die Elefanten töteten. Vier lagen schon am Boden und ein fünfter Bulle war schwer getroffen. Die anderen Tiere flüchten in wilder Panik in das Unterholz. Doch ein Teil der Männer folgte ihnen, der andere Teil fiel schon über die Kadaver her. Sie schnitten die Stoßzähne heraus und ließen den restlichen Körper liegen.

Ades Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Das kann doch nicht sein. Sie nehmen nur die Zähne und lassen den Rest liegen. Ich glaube es nicht! Unser Dorf könnte sich eine Woche davon ernähren, dachte er.

Der Junge war so in seinen Gedanken versunken, dass er den Löwen nicht bemerkte, der sich zu ihm gesellt hatte.
"Hallo, Ade" sagte er freundlich.

Der Hirtenjunge sprang auf und griff zu seinem Speer. "Du bist ein Löwe und willst mich fressen! Bleibe bloß dort!" rief er.
Traurig schüttelte der Löwe den Kopf, und seine dichte Mähne umspielte sein Gesicht. "Es ist immer das Gleiche: Überall wo ich hinkomme, haben die Menschen und Tiere Angst vor mir. Es stimmt zwar, dass ich zum Leben Tiere töten muss, aber ich bin kein gnadenloser Killer!"

Ade erblickte mit Erstaunen ein paar Tränen in dem Gesicht des Löwen, ging vorsichtig auf ihn zu und streckte die Hand aus. Das Fell des Tieres war ganz weich und wunderschön. Erst jetzt bemerkte unser Freund, dass das Fell wie Gold glänzte und die Gestalt des Löwen wie eine Aura einhüllte.

"Sei bitte nicht so traurig", sagte Ade. "Ich kann nichts dafür. Man hat mir gesagt, dass alle Löwen böse sind und mich töten wollen."

"Und mir hatte man früher beigebracht, dass alle Menschen böse sind", meinte der Löwe und grinste.
"Ich bin Rochus und Gaia hat mir aufgetragen, dich zu einer Konferenz zu begleiten. Es stimmt nicht, was der Mann erzählt hat. Die Mutter Erde ist kein Geschwafel. Sie gibt es, und sie braucht dich, kleiner Krieger!" Die Augen des Tieres hielten Ade in ihren Bann.

"Ich habe es immer gewusst! Gaia gibt es. Was ist los? Warum braucht sie mich. Bitte erzähl!" meinte Ade.

Und so begann Rochus von Gaia und ihren Problemen zu erzählen. Er erwähnte auch die Konferenz und deren Ziele.
Ade wollte natürlich Rochus begleiten und trieb seine Herde ins Dorf zurück. Der Löwe blieb außerhalb, damit sich keiner erschrecken sollte.

Nach einiger Zeit kam der Junge wieder, mit einem Bündel über seinen Speer versehen. Er war bereit und so zogen sie los.
Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs als Rochus das Nachtlager aufschlagen wollte.

"Sieh dort, am Horizont beginnt die Sonne schon langsam zu versinken. In einer halben Stunde sehen wir hier nichts mehr."
Ade machte ein Feuer und briet sich ein Stück Fladenbrot, was er mitgebracht hatte. Rochus war in dem nahegelegenen Wald verschwunden. Er jagte sein Abendessen.

Der Junge war ihm aber nicht böse. Er hatte ihn schon recht gut kennengelernt. Natürlich sind Löwen nicht von Natur aus so friedlich. Gaia hatte da etwas nachgeholfen. Sie machte sich auch Sorgen um das Leben des Jungen.

Als Rochus wiederkam, saß Ade schon müde am Lagerfeuer. Sein Kopf war auf seine Brust gefallen und seine Hände umklammerten krampfhaft den Speer der zwischen seinen Füßen in der Erde steckte.

"Du bist mir eine schöne Wache, Ade!" rief der Löwe. "Ich konnte seelenruhig in unser Lager kommen. Du hast mich nicht bemerkt."

Rochus lachte laut auf als er Ades betrübtes Gesicht sah. Der Junge war ertappt worden. Doch der Löwe lächelte und rollte sich sein.

"Komm Ade, lege dich zu mir. So können wir uns gegenseitig in der kalten Nacht wärmen."

Der Hirtenjunge zögerte keine Sekunde legte sich zwischen die kräftigen Pranken seines neuen Freundes und wühlte mit dem Gesicht tief in dem Fell des Löwen. Dabei schlief er ein.

Du hast noch einen langen Weg vor dir, Gaia, dachte der Löwe und schloss seine Augen.

Kapitel 6