Kapitel 4: José und der Tukan
Es war ein stickiger, heißer und unerträglicher Tag. Aber wie jeden Tag mußte José auch heute in die kleine Schule des Dorfes gehen. Das Dorf hieß Foz do Pauini und lag einem Ort, wo der Fluß Pauini auf den Purús trifft und von ihm aufgenommen wird. José lebte in den tropischen Regenwäldern von Brasilien.
Obwohl das Dorf recht abgelegen war und nur wenige Menschen zu Besuch kamen, hatte der "Fortschritt" auch hier schon Einzug gehalten. Nur leider war er anders als erwartet.
Dem Jungen ging alles viel zu schnell. Gegenden, wo er einst mit seinen Freunden im Wald rumtobte, wurden abgeholzt, und das Holz auf dem Fluß in die großen Städte am Atlantik gezogen. Dort wurde die ganze Welt beliefert um aus ihm Möbel zu machen.
Die Stimme der Lehrerin riß José aus seinen Gedanken. "Nun mal schnell, junger Mann. Die anderen sind schon alle im Zimmer. Heute kommt doch Kapitän Miguel de La Vega zu Besuch. Du weißt doch, der immer mit seinem Boot die großen Baumstämme nach Westen zieht", sagte Carmela de Sagon und gab José einen leichten Klaps auf den Po.
Die Kinder waren alle sehr aufgeregt. Stimmen wurden laut, als der Kapitän mit seiner wuchtigen Gestalt in das Klassenzimmer trat. Er trug seine Uniform an der stolz seine Orden hafteten. Miguel war lange Zeit bei der brasilianischen Armee gewesen und hatte sich dort von einem einfachen Soldaten zu einem Major hochgearbeitet. Mit seiner "Rente", er war 40 als er die Armee verließ, kaufte er sich das Boot mit dem er nun Waren und Holz die Flüsse entlang transportierte.
Der Kapitän erzählte, dass durch den Verkauf Gelder in die Stadt gelangten und der Wohlstand kommen würde.
Nun, dachte José, das Geld wandert doch sowieso in die Taschen der Reichen im Dorf, wie die Familie de La Mora zum Beispiel. Den La Moras gehörte doch die halbe Stadt.
Die Familie hatte eine Hazienda am Rande des Dorfes wo Josés Vater und die meisten Männer auf den Feldern arbeiteten.
Kapitän de La Vega erzählte und erzählte. Die meisten Kinder konnte er begeistern, nur José machte sich Gedanken.
Er wußte nicht, was falsch an dem Gerede der Erwachsenen war, aber mit seinen 10 Jahren wußte er schon, dass Etwas falsch war.
Irgendjemand mußte es dem Jungen nur erklären. Und dieser Jemand wurde von Gaia gesandt. Es war Diego, der Tukan.
José wurde müder und er ließ den Blick auf die Straße außerhalb der Schule schweifen. Da flog Diego heran und setzte sich auf das Fensterbrett. Keiner im Raum bemerkte ihn, denn sie waren von den Erzählungen des Kapitäns gefangen.
Die meisten Abenteuer, die er erlebt haben will, stimmen sowieso nicht. Die hat er sich alle ausgedacht, meinte José zu sich.
"Hallo José! Ich bin Diego und wollte dich mal besuchen," krächzte der Vogel.
Ehe der Junge antworten konnte, läutete die Glocke und die Stunde war vorüber.
Die Lehrerin verabschiedete sich von den Kindern mit den Worten: "Und zu Montag hat jeder einen Aufsatz über eines der Abenteuer des Kapitäns geschrieben."
Die letzten Worte hörte José schon gar nicht mehr; er war schon auf dem Weg zu Diego.
Einen Vogel, der sprechen kann, hatte er noch nie gesehen.
Geduldig wartete der Tukan auf den Jungen. Von einem Ast rief er herunter: "Komm, ich werde dir etwas zeigen", und flog in Richtung des Waldes.
Sie gelangten in einen Teil des Regenwaldes, der noch unberührt war, und Diego deutete bei seiner Erzählung immer wieder mit seinem Flügel auf die Bäume und Tiere.
"José, du bist ein bemerkenswerter Junge. Und Gaia weiß das. Du machst dir Gedanken über den Wald. Sieh, der tropische Regenwald, den du hier siehst, herrscht auf der Erde nur in einem schmalen äquatornahen Gürtel vor, der ausreichend Regen und gleichbleibend hohe Temperaturen bietet. Die anhaltende Abholzung der Regenwälder durch Leute, wie die Familie La Mora, und Handlanger, wie der Kapitän, vernichtet unwiederbringliches und äußerst wertvolles biologisches Potential, zerstört die Lebensgrundlagen ihrer Bewohner und führt überdies zu einer weltweiten Klimaänderung. Die Bäume produzieren Sauerstoff, das der Mensch und die Tiere zum Atmen brauchen, und wenn die Bäume gefällt werden, gibt es auch folglich weniger Sauerstoff. Das ist aber nur einer der Gründe."
José saß eine ganze Weile schweigend da und schaute den Vogel mit großen Augen an.
Das war es, was ihn so beschäftigte. Diego hatte den Punkt entdeckt.
Der Tukan erzählte ihm weiter, dass im Augenblick nur 37% der Regenwälder in Südamerika betroffen sind, in Afrika und Asien jedoch bis zu 70% vernichtet wurden.
"Ich finde es ja auch nicht toll, was hier passiert, aber was sollen wir machen?" fragte José. "Wir brauchen doch das Geld und das Acker- und Weideland um zu überleben!"
Traurig schüttelte Diego den Kopf.
"Gut, aber wenn die Menschen in den Industrieländern keine Produkte aus Tropenholz mehr kaufen, bleibt ein Großteil des Waldes erhalten. Es gibt doch genügend Alternativen in der Möbelbranche. Warum muß ein Stuhl immer aus Mahagoni sein? Man sollte einheimische Holzsorten bevorzugen. Die wachsen durch Aufforstungen in Europa z.B. wieder nach."
"Und die Rinder könnten auch woanders weiden", meinte José abschließend.
Diego setzte sich auf die Hand des Jungen. "Ich merke, du verstehst. Daher hat Gaia dich ausgewählt. Komm mit mir und helfe ihr!"
José war ganz aufgeregt. Selbstverständlich wollte er der Mutter Erde helfen. Er muß den anderen Menschen nur erzählen, was er so in seinem kurzen Leben alles schon erlebt hatte.
Ich werde die Zukunft der Erde sichern, dachte er und war recht zuversichtlich.
Doch der Weg zur Konferenz war lang und mehrmals mußten die beiden an Brandrodungen vorbei, dort wuchs nichts mehr - kein Baum, kein Strauch und keine Blume.
An einigen Stellen war auch der Fluß Purús über die Ufer getreten und hatte weite Teile des Landes überschwemmt.
"Die Bäume, die normalerweise das Wasser aufsaugen und den Boden durch ihre Wurzeln festhalten, sind alle abgeholzt. Nun kann das Wasser ungehindert über die Ufer treten und auch noch den letzten Rest fruchtbaren Ackerlandes fortwaschen," erklärte Diego.
José ließ immer mehr den Kopf hängen und als sie wieder einmal das Nachtlager aufschlugen und am Lagerfeuer saßen, fragte er den Vogel: " Diego, haben wir denn wirklich noch eine Chance? Können wir Gaia und uns noch retten? Das was ich von dir gelernt habe und was ich hier sehe, läßt mich Böses erahnen."
Der Tukan breitete einen Flügel über die Schulter des Jungen aus und tröstete ihn." Es ist nie zu spät. Nur wir müssen schnell handeln. Die Zeit wird wirklich knapp. Aber noch haben wir eine Chance. Ihr Kinder seid es, die den Erwachsen den Weg leuchten sollen."
"Du meinst, meine Eltern sollten von mir was lernen? Papa hört doch nur auf den Wirt in der Kneipe oder auf seine Freunde!"
"Nicht alle, mein Junge. Nicht alle. Einige schreiben sogar darüber...." meinte Diego, breitete die Decke über José aus und flog auf einem nahen Baum um zu schlafen.
Kapitel 5