Teil 1 – Ein neues Leben erscheint

Langsam wurde das Dunkel der Nacht von der Morgensonne verdrängt. Ein riesiger Adler breitete seine Flügel aus und glitt in das Morgenrot hinein. Seine Augen suchten nicht nach Beute; seine Blicke sahen diesen wundervollen Tag nicht. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders.

Beinahe wäre er mit Hagus, dem Falken, zusammen gestoßen. Der schrie ihm nur nach, dass er zwar der König der Lüfte sei, aber trotzdem nicht das Recht hatte, seine „Untertanen“ zu schikanieren.

So weit ist es also mit der Monarchie gekommen, dachte er verzweifelt. Nach diesem kleinen Aufflackern erloschen seine Gedanken wieder und glitten hinab in die Tiefe seiner Seele.

Nur Morgane, die Eule, wusste, warum ihr König so aufgeregt war. Schweigend saß sie neben Arabelle, dem Weib von Carelon, dem Adler, Herrscher über die Rotfelsen, einem Gebiet im Norden des Landes, das die Menschen Amerika nennen.

Zum Glück verirrte sich kaum einer der Zweibeiner in das Tal, dachte Morgane. Wir wären sonst verloren. Warum musste es eigentlich solche üblen Wesen überhaupt auf dieser Erde geben?

„Weise Morgane, ich glaube es fängt an,“ sagte Arabelle leise und riss die Eule so aus ihren Gedanken. Ihre Blicke schwenkten durch die Höhle, trafen auf uralte Felsmalereien und auf durch Sand fasst verdeckte Schalen und Werkzeuge. Einst hatten hier die Anfänge der menschlichen Zivilisation begonnen. Vor 20.000 Jahren war diese Höhle die Heimat eines Stammes von Urmenschen. Doch diese sind schon lange vergessen, und die Tiere haben dieses Tal wieder friedlich übernommen.

Die beiden Vögel sahen nun die ersten Risse in der Schale des Eis. Arabelle hatte dieses Mal nur eines gelegt, weil sie wusste, dass es etwas Besonderes werden würde. Morgane und Arabelle waren Zeuge der Geburt des Thronfolgers, der später als Angus, der Abenteurer, in die Geschichte der Tiere eingehen sollte.

Unendlich langsam arbeitete sich die Spitze des Schnabels durch die harte Schale, die wochenlang der Schutzwall des kleinen Wesens gewesen war. Doch nun wollte es endlich hinaus, die Mauer durchbrechen, das Licht der Welt erblicken.

Wenn der Kleine nur wüsste, auf was er sich hier einlässt, er würde sich nicht so beeilen, schoss es Morgane durch den Kopf.

Nun gab es kein Halten mehr. Der kleine Kopf erschien und zwängte sich nach draußen; der Körper folgte, nun war es also doch geschafft. Carelon hatte endlich einen Nachfolger für sein schweres Erbe.

Beim ersten Kreischen von Angus schoss er aus den Wolken hinab und raste kometengleich auf die Höhle zu. Einige Vögel mussten ihm ausweichen; er sah nur den Eingang seiner Behausung. Da waren seine Frau, die Weise – und sein Sohn!

„Ach herrje! Heute ist es soweit!“ Sagte Russel, der Rabe, zu seinem Bruder Marvin als er den Adler sah.

Marvin sah ihn mit großen Augen nach. „Was? Was ist denn heute?“ Fragte er verstört.

Sein Bruder antwortete ihm mit milder Stimme:“ Nun, kleiner Dummkopf! Carelon wird Papa. Komm, wir folgen ihm.“

Marvin war sofort Feuer und Flamme. Mit den Worten „Klar, klar. Nun mach schon,“ schwang er sich von dem Zweig des Mammutbaumes und fiel der Länge nach auf den Boden. Er konnte sich halt eben nur schwer merken, dass er auch mit den Flügeln schlagen musste. Marvin war der Kleinste von fünf Geschwistern gewesen und war auch nicht besonders stark. Bei einer Balgerei im Nest schupste Agrima, der Größte von ihnen, Marvin „ausversehen“ aus dem Nest. Hart traf er auf den Boden auf – und hatte sich nie ganz von dem Sturz erholt. Er war nicht dumm, nein, er war nur tollpatschig, und deshalb mochten ihn die anderen Tiere sehr. Er war so hilfsbereit, und seine ganze Art half den Tieren ihre Sorgen für einen Augenblick zu vergessen. Sie dachten überhaupt nicht daran, ihn herablassend zu behandeln oder gar ihn zu schikanieren. Nein, ganz im Gegenteil – er war ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Klar, Marvin war eigentlich keine große Hilfe, wenn es um handwerkliche Dinge oder Ähnliches ging, aber man sagte es ihm nie, denn man wollte ihn nicht verletzen. Alle Tiere waren stets darauf bedacht, gemeinsam das Leben zu meistern.

Nun, das war nicht das Einzige, was sie von den Menschen unterschied. Wahrhaftig noch nicht!

Marvin rappelte sich gerade auf, als Tobias, das Eichhörnchen, vorbei in Richtung Höhle huschte. Auch er wollte dem Prinzen huldigen.

„Tobias, warte bitte. Ich kann nicht so schnell fliegen, wie Du springen kannst,“ kreischte Marvin vor Aufregung. Tobias wartete an dem nächsten Baum auf seinen Freund.

Gemeinsam traten sie vor Carelon und verneigten sich feierlich.
Die tiefe Stimme des Adlers ertönte: „Liebe Freunde. Ich bin kein Tier der großen Worte, dass wisst ihr. Darum kann ich auch nicht das unbeschreibliche Glück ausdrücken, das ich in diesem Moment empfinde. Möge Angus in Frieden aufwachsen und glücklich sein – so wie wir alle.“

Diese kurze Ansprache wurde von den Tieren mit viel Beifall aufgenommen.

Carelon trat an Marvin heran und legte ihm seine breiten Flügel auf die Schultern. „Komm, Marvin. Du sollst der erste von euch sein, der meinen Sohn begrüßen darf.“

Tränen der Freude kullerten über das Gesicht des kleinen Raben und langsam folgte er seinem König.

Eigentlich sieht er ja nicht besonders aus. So nackt und blind. Und Schreien tut er auch. Wie ein ganz normales Baby, dachte Marvin.

Leiste trat er vor das Nest und lächelte Angus an. Ihre Blicke trafen sich und sofort hörte Angus auf zu weinen.

Marvins Gesicht erhellte sich. Da war jemand, der ihn auf Anhieb mochte.

„Eins schwöre ich Dir, kleiner Prinz. Ich werde Dir immer mit Freuden dienen und Dich beschützen. Dir soll nie ein Leid zugefügt werden. Solange ich lebe,“ flüsterte Marvin dem Kleinen zu.

Nun, was Marvin nicht wusste, Adler haben ein sehr sehr gutes Gehör. Und so tauschten Carelon und seine Frau einen vielsagenden Blick aus.

Sie hatten alles mitgehört und wussten, dass Marvin sein Wort (auf seine Weisen) halten würde. Arabelle hob ihren Blick zum Himmel und dachte: Nun muss ich wohl doch auf zwei Kinder aufpassen! Aber in ihrem Herzen freute sie sich, dass Marvin endlich eine sinnvolle Aufgabe gefunden hatte.