Kapitel 2: Weißer Hirsch und der Bison


Es war ein stiller Morgen. Die Sonne kündigte gerade ihr Kommen am Horizont an und rote Sonnenstrahlen fielen auf einen jungen Indianer, der an einem Teich saß und angelte.

Sein Name war John Terry; sein Volk nannte ihn aber Weißer Hirsch, einer Tradition folgend.

Der Indianer liebte diesen Ort. Hier konnte er einmal abschalten und das Elend um ihn herum vergessen. Er wohnte in einem Reservat in South Dakota, einem Bundesstaat der USA.
Viele Erwachsene im Ort hatten keine Arbeit. Sie lebten in verwahrlosten Häusern und ertranken ihre Sorgen im Alkohol. So auch der Vater von Weißer Hirsch.
Der Junge wurde, wenn sein Vater betrunken war, regelmäßig geschlagen. Er konnte ihm nur an diesem einsamen Ort entfliehen.

Der Junge träumte vor sich hin, als plötzlich ein Bison am Rande eines Hügels auftauchte. Es war gewaltig. Seine breiten, stämmigen Schultern bewegten sich mit jedem Schritt auf und ab. Zwei kräftige Hörner ragten aus seinem Kopf. Die Erscheinung des Tieres flößte Ehrfurcht ein.

Langsam trottete das Tier dem Ufer entgegen, blickte den Jungen nur kurz an, senkte den Kopf und begann genüßlich zu trinken.

Weißer Hirsch konnte nicht anders. Magisch wurde er von dem Tier wie ein Magnet angezogen. Er musste den Bison kennenlernen.

So bestieg er sein Kanu und paddelte an das andere Ufer.
Der Junge sah dem Tier zu und sagte kein Wort. Weißer Hirsch wollte den Bison nicht stören.

"Guten Tag, Junge. Ich bin Rufus, und wie heißt du?" fragte das Tier.
John stammelte: "Ich bin Weißer Hirsch vom Stamme der Sioux."
Der Indianer war so aufgeregt, dass er sich nicht einmal wunderte, dass er Rufus verstand.

"Du blickst mich zwar seit einer ganze Weile an, aber ich spüre, dass deine Gedanken ganz woanders sind", meinte der Bison.
Weißer Hirsch zog sein Kanu an Land und setzte sich auf einen nahegelegenen Baumstumpf.

"Ich sehe mein Volk leiden; viele von uns leben nur von der Fürsorge des Staates, der meine Vorfahren in diese Reservate verbannt hat. Mein Großvater erzählte mir einmal, dass die Sioux das ganze Land für sich hatten. Sie zogen von Ort zu Ort und lebten friedlich mit der Natur zusammen. Dann kamen die weißen Männer und fingen an, den Indianern das Land wegzunehmen. Sie töteten viele von uns und zum Schluß konnten wir nicht anders und zogen hierher. Ein Volk ohne Macht; zerbrochen und ohne Hoffnung."

"Du hast viel von deinem Großvater gelernt. Komm, ich möchte dir etwas zeigen", sagte Rufus und trottete schon den Hügel hinauf. Weißer Hirsch folgte ihm ohne zu zögern. Irgendetwas geht hier vor, und er wollte wissen was es war.

Der Indianer und das Bison stiegen auf den Hügel hinauf und sahen von dessen Spitze aus auf der andere Seite die weite Prärie unter sich liegen.
Am Fuße der Erhebungen graste eine Herde von 30-40 Bisons.
"Sieh, dort unten. Das ist mein Volk. Einst waren wir so zahlreich, dass die Herde von Horizont zu Horizont reichte. Früher lebten Millionen von uns auf dieser Welt und heute sind es nur noch wenige Tausend. Wir wurden ebenso wie Ihr verdrängt, getötet und zusätzlich noch fast ausgerottet.
Ihr Indianer und wir lebten im Einklang. Die Jagd war für euch notwendig, das wußten wir. Ihr nahmt uns aber nur so viele Tiere, wie ihr benötigt habt. Aber die weißen Siedler schossen auf uns nur so zum Spaß!
Sie wollten uns als eure Nahrungsquelle ausschalten, um euch so zu zwingen, ihren Gesetzen zu folgen und ihnen das Land abzutreten.
Du siehst also: Wir beide haben das gleiche Schicksal! Deswegen hat mich Gaia auch für dich ausgewählt."

Rufus erklärte dem erstaunten Indianerjungen die Idee Gaias, redete von der Konferenz und der Hilfe, die die Erde benötigte. Sie redeten sehr lange und merkten nicht, wie sich die Nacht über sie herabsenkte. Weißer Hirsch machte ein Feuer und briet ein paar kleine Fische zum Abendessen.

Er und das Bison hatten sich sehr schnell angefreundet.
Weißer Hirsch folgte den Erzählungen Rufus und hatte ein klares Ziel vor Augen: Er wollte Gaia helfen! Es war höchste Zeit.
Weißer Hirsch wurde müde und schlief an der Seite des Bisons in dessen dichten weichen Fell ein. Die Herde hatte sich um sie versammelt und hatten sie in ihre Mitte genommen.

Am nächsten Morgen zogen sie schon früh los, denn es lag ein weiter Weg vor Ihnen. Weißer Hirsch machte sich keine Gedanken um seine Eltern, denn die - so meinte er - würden ihn nicht vermissen.
"Sie sind bestimmt froh, dass sie mich los sind. So ist ein Esser weniger in der Familie", erklärte er Rufus.
Der Bison schüttelte seinen mächtigen Kopf und sein dichtes, zottiges Fell wirbelte in der Luft herum.
"Keine Familie ist glücklich, ein Kind zu verlieren", sagte er und fing in einem langen Gespräch an, den Jungen eines Besseren zu belehren. Schon bald waren sie sich einig und schickten einen Boten in das Reservat zurück.

Die Herde war schon eine ganze Weile unterwegs, als Weißer Hirsch unbedingt Rufus und den anderen Tieren etwas Wichtiges zeigen wollte. Sie bestiegen eine Hügelkette, die in einem wunderschönen kleinen Tal endete.

Dort waren die Grabstätten der Sioux. Man konnte auf einigen der Holzgerüste noch die Überreste von Kleidungsstücken und Gebeinen erkennen.
Die Tradition der Indianer besagte, dass hohe Würdenträger - wie Häuptlinge oder Medizinmänner - eine solche Ruhestätte erhalten sollten. So waren sie immer noch in das Leben der Hinterbliebenen integriert.
Instinktiv wusste Rufus, dass dieser Ort etwas wirklich Besonderes für den Jungen war, und so schwieg er und drängte ihn nicht weiterzugehen. Diesen Augenblick hatten sie noch Zeit und Gaia würde es verstehen.

Rufus war stolz, dass der Junge solch ein Vertrauen zu ihm und seiner Herde hatte und dass er sie an diesen geheimen Ort führte.
Die Beiden standen gerade am Grab von Springender Bär, dem Großvater von Weißer Hirsch, als etwas Unerwartetes passierte.
Ein Strahl der Sonne traf auf einen blinkenden Gegenstand am Fuße des Gerüstes und schien ihn in silbernes Licht zu tauchen. Der Indianerjunge untersuchte das Blinken und entdeckte den silbernen Knauf eines Stabes. Er grub ihn aus und hielt ihn mit ausgestreckter Hand dem Horizont entgegen.
Explosionsartig sammelte sich an der Spitze des Stabes das Sonnenlicht und weiße Rauchschwaden stiegen empor.
Rufus trat neben den Indianer und meinte: "Das ist der Stab der Weisheit. Ein Werkzeug, das wir sehr gut für unsere Mission gebrauchen können. Gaia wusste, dass nur du ihn benutzen kannst, denn du bist der Enkel von Springender Bär, deinem Großvater und dem größten Medizinmann aller Zeiten!"
Weißer Hirsch blickte den Bison mit großen Augen an. "Das meinte mein Großvater also damit, dass ich nie aufgeben sollte, denn ich wäre für etwas sehr Großes bestimmt. Komm Rufus, wir müssen zu der Konferenz. Die Erde ist in großer Gefahr!"
Somit zog er liebevoll am Fell des Büffels und führte ihn dem Horizont entgegen.

Kapitel 3