Kapitel 3: Kaja und die Möwe
Kaja war ein junges Mädchen von sieben Jahren und lebte in Torbenstad, einem Ort in Schweden, direkt an der Küste. Bis auf die Tatsache, dass es ab und zu etwas langweilig war, gefiel ihr das Leben hier sehr gut.
Sie ging oft mit ihren Freundinnen an den Strand und sammelte Muscheln und blankpolierte Steine, die das Meer an die Küste gespült hatte.
Es war alles sehr friedlich und wunderschön. Der Ort lag am Rande eines Naturschutzgebietes und die Menschen hielten sich auch daran, die Tiere nicht zu stören oder zu jagen. Ja sie verstanden sich sogar prächtig und lebten in Harmonie zusammen.
Dann jedoch kam die Nacht, die das Leben der Dorfbewohner verändern sollte: ein Jahrhundert-Sturm brach über sie herein.
Kaja konnte keine Minute schlafen und erschrak jedesmal, wenn ein Blitz an ihrem Fenster hell aufleuchtete. Der Wind pfiff durch die Baumkronen und an den Giebeln entlang, und der Donner krachte so laut wie ein startendes Flugzeug. Der Lärm war einfach unbeschreiblich.
Das Meer traf auf den ersten Deich und überrannte ihn förmlich. Immer weiter suchten die Wassermassen den Weg ins Landesinnere.
Das Land, das die Menschen hier dem Meer trotzig abgerungen hatten, holte es sich jetzt mit doppelter Heftigkeit zurück.
Kajas Vater war die ganze Nacht auf den Beinen und half der Feuerwehr, die Dämme mit Sandsäcken zu verstärken. Es war ein ungleicher Kampf. Die Männer kämpften wie eine Armee Ameisen gegen einen Gegner, der viel größer war als sie. Aber dann gelang es ihnen doch, das Meer kurz vor dem Ort zu stoppen.
Am nächsten Morgen zogen Kaja und ihre Freundin Ingrid früh los; sie wollten am Strand nach Dingen suchen, die der Sturm angespült hatte.
Es gab viele nützliche Sachen am Strand. Eines Tages hatten die beiden sogar eine Kiste mit Bananen gefunden, die ein Schiff verloren hatte. Die Kiste war so gut verschlossen, dass die Bananen noch frisch und genießbar waren. Nach einer Woche konnte aber keiner im Ort mehr Bananen sehen.
Die beiden Mädchen gingen über eine Düne und als sie auf der Kuppe standen, verschlug es ihnen die Sprache. Vor der Küste lag ein riesiger Tanker auf Grund. Aus einem breiten Loch schoß schwarzes klebriges Öl und bedeckte schon den ganzen Strand.
Eine Unmenge an Seevögeln und andere Tiere waren in der schwarzen Masse gefangen. Das Öl verklebte ihr Gefieder und ihr Fell. Viele Fische trieben tot an der Wasseroberfläche.
Wie versteinert standen die beiden Mädchen da. Kaja war die erste, die sich wieder fassen konnte.
"Ingrid, lauf schnell los und sage Papa Bescheid. Ich bleibe hier und versuche zu helfen", rief sie ihrer Freundin zu und lief schon auf den Strand zu.
Wo sollte sie aber anfangen? Überall kreischten Vögel und schrien Tiere in Panik auf.
Das Mädchen zerriß sein T-Shirt, griff sich einen der Vögel und fing an, dessen Gefieder sauberzumachen. Die Federn der Vögel saugen das Öl auf, das sich nicht im Wasser auflöst, sondern an der Oberfläche treibt.
So können sie ihr Gefieder nicht mehr benutzen, können nicht mehr fliegen und müssen elend zugrunde gehen.
Nach drei Vögeln kamen schon Kajas Eltern und ein paar andere Erwachsene zusammen mit Ingrid angerannt.
In ihren Gesichtern war das Grauen über dieses Bild ganz deutlich zu sehen.
Die Feuerwehr traf kurze Zeit später ebenfalls ein. Schon waren einige der Tiere gerettet worden, aber viele waren noch immer im Öl gefangen.
Kaja lief zu einer nahegelegenen Pfütze, wo eine Möwe versuchte, ihr Gefieder von der schwarzen Masse zu befreien - ohne Erfolg.
Das Mädchen hob den Vogel behutsam auf und rieb die Federn ab. Nach gut zwei Stunden war das Tier endlich befreit; jedoch waren die Spuren des Öls noch deutlich zu sehen.
"Vielen Dank. Ohne deine Hilfe wäre ich jetzt bestimmt schon tot", sagte die Möwe. "Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Baldur."
Kaja sah den Vogel in ihrer Hand an und streichelte ihm das Gefieder.
"Ich heiße Kaja und wohne dort im Ort." Dabei wollte sie mit der Hand auf Torbenstad zeigen und vergaß dabei, dass dort Baldur saß. Er konnte sich gerade noch festkrallen, als sie die Hand im weiten Bogen kreisen ließ.
"Oh, Entschuldigung. Ich habe nicht mehr daran gedacht, dass du hier sitzt. Da es dir aber offensichtlich wieder besser geht, werde ich dich jetzt wieder absetzen. Dort drüben warten noch andere Tiere auf mich."
Baldur flog schon von ihrer Hand und führte die Menschen zu immer neuen Opfern der Katastrophe.
Die Zeit verstrich und schon tauchten die ersten Schaulustigen und Reporter auf. Kameras surrten und Fotoapparate klickten. Kaum einer half! Begeistert schauten die Menschen zu, wie sich einige wenige von Ihnen damit abmühten, genug Tiere zu retten.
Kaja lief ihnen entgegen und schrie sie an: "Verdammt! Warum hilft hier denn keiner? Alle gucken sie nur dumm in der Gegend herum!"
Die Antworten, die sie bekam, versetzten sie in Panik: "Nun, es sind doch nur Tiere. Warum soll ich mich darum kümmern?", "Soll ich mir mit dem Dreck meinen neuen Anzug ruinieren?" oder "Soweit kommt das noch. Da sind doch schon genug. Ich fahre lieber wieder nach Hause."
Baldur setzte sich auf die Schulter des Mädchens als sie sich weinend der Menge abwendete.
"Nun, diese Leute gibt es immer. Leider ist es auch die breite Masse. Die Reporter würden hier nicht stehen, wenn die anderen Menschen das hier nicht sehen wollten. Es ist das Ereignis in den Nachrichten", sagte die Möwe verbittert und fuhr fort, "daher hat mich Gaia auch geschickt. Ich sollte ein Kind finden, das begreift, dass es so nicht weitergehen kann und du bist auf dem besten Wege dazu."
"Gaia hat dich geschickt?" antwortete sie und schüttelte dabei ihren Kopf.
Da begann die Möwe alles über die Konferenz und deren Ziele zu erzählen.
Kaja wollte sofort helfen. "Natürlich werde ich dich begleiten. Ich komme mit um diesen Mist hier abzustellen. So kann es nicht weitergehen. Gaia hat auch ein Recht darauf zu leben. Ohne sie wären wir doch gar nicht hier!"
Erfreut über diese Antwort hüpfte Baldur vor dem Mädchen auf und ab und kreischte.
"Wir werden dort auch andere Kinder treffen, die genauso wie du die Welt retten wollen."
Durch das Kreischen wurde ein riesiger Blauwal gerufen, der von einem Schwarm Tümmler begleitet wurde.
Die Menschen am Strand waren sehr aufgeregt und einige Unverbesserliche wollten auch gleich die die Tümmler einfangen um sie in einem Zoo auszustellen. Einige wollten sogar den Wal töten und ausstopfen. Diese Ideen kamen aber nicht von Leuten aus dem Dorf, sondern von den Schaulustigen!
Kaja wurde immer aufgebrachter, wurde jedoch von der Stimme eines alten Fischers beruhigt.
"Sie wissen gar nicht, was sie da reden. Die Delphine haben ein größeres Gehirn als der Mensch und sind wesentlich intelligenter. Ihr Familiensinn ist weitaus mehr ausgebildet als bei uns. Dort werden alte oder kranke Tiere nicht einfach von der Sippe verstoßen. Bei uns ist es etwas anderes. Ich z.B. habe 50 Jahre schwer gearbeitet - hier in der Werft, die schon in den 70er Jahren schließen musste - und was habe ich nun davon? Ein paar Kronen Rente und das Leben eines Ausgestoßenen.
Bei den Delphinen ist es anders; die haben sogar eine eigene Sprache. Diese Tiere töten auch nicht zum Spaß, so wie sie den Wal umbringen wollten. Meine Güte! Seht ihr denn nicht ein, dass wir etwas ändern müssen! Ich bin alt, aber diese Kinder hier haben noch ihr ganzes Leben vor sich!"
Die Schaulustigen wendeten sich mit den Worten, "Das Gestammel eines alten Mannes, der nicht mehr so gut denken kann", ab.
Baldur setzte sich wieder auf die Schulter von Kaja und flüsterte ihr ins Ohr: "Der Mann hat Recht. Der Mensch ist wirklich nicht die Spezies auf der Welt. Wale und Delphine gib es schon viel länger!"
Der alte Werftarbeiter tat dem Mädchen leid und so ging sie auf ihn zu.
"Ich verstehe sie! Ich bin vielleicht noch jung, aber dank dieser Möwe hier", dabei deutete sie auf Baldur, " bin ich weiser als viele der Erwachsenen hier. Baldur hat mir von Gaia erzählt und was für Probleme wir ihr bereiten. Ich werde ihr helfen und keiner kann mich davon abbringen. Wenn ich zurückkomme, werde ich dich jeden Tag besuchen - wie auch meine Freunde hier."
Bei diesen Worten beschrieb Kajas Hand einen weiten Bogen, und wie zur Bekräftigung stimmten die Delphine einen Gesang an. Da lachte der Alte auf und frischer Lebensmut trat in seine Augen.
"Ich werde auf dich warten, kleine Heldin. Das verspreche ich dir."
Nun drängte Baldur doch zum schnellen Aufbruch, denn der Zeitpunkt für die Versammlung war schon sehr nahe gerückt.
Kaja verabschiedete sich von ihren Freunden und musste sich - unter Protest ihrer Eltern - auf den Rücken des Wales setzten. Dann schwamm sie so mit ihm in einen feuerroten Sonnenuntergang.
Der alte Arbeiter sah dem seltsamen Trupp noch lange nach und blieb noch auf dem Stein sitzen, als die Tiere seinen Blicken schon längst entschwunden waren.
Kapitel 4