Das Mädchen von Hammerweiß
Es war das Jahr 1345 nach Christi Geburt. Weihnachtszeit. Der Schnee bedeckte das Land wie Puderzucker und funkelte im Sternenlicht.
Zadok von Mühlheim war schon lange unterwegs. Sein Weg - wie immer - ein einsamer.
Trotz der vier Ritter und dem Magister Albwin, die ihn begleiteten, fühle er doch, dass er allein war. An jedem Ort, den der Trupp durchritt oder als Ruhestatt aussuchte, wurde er nicht begeistert aufgenommen. Im Gegenteil eine Welle von Hass flutete den Männern entgegen und drohte sie jedes Mal wegzuspülen. Doch dann war da stets Zadok. Seine Aura umfing ihn und ließ jeden im Umkreis erzittern, denn Zadok war ein Inquisitor, dessen Ruf schon durch das ganze Land eilte. Man munkelte, dass von den über vierhundert Verhandlungen, die er geführt hatte, nicht eine war, die milde ausfiel. Bis jetzt hatte er sie alle überführt.
Das sollte diesmal auch so sein, wenn es nach dem Willen der Heiligen Kirche und dem Mönch ginge.
Die Inquisition, einst von Innozenz IV. im Jahre 1252 gestattet, hinterließ seit dem eine blutige Spur durch ganz Europa. Und nun war einer der Mächtigsten von ihnen gekommen: Zadok von Mühlheim! Hammerweiß war in Aufruhr: Die Hexe hatte keine Chance. Dafür würde der Mönch schon sorgen.
Das Örtchen Hammerweiß lag an der schönen Mosel und war eigentlich noch nie aufgefallen. Der Graf, dessen Leibeigene die Dorfbewohner stellten, hatte keinen Grund zur Klage gehabt. Sein Zoll wurde immer pünktlich von allen beglichen. Es gab zwar hier und da einige "Verspätungen", aber darüber konnte man ja stets verhandeln. Er war ein stolzer und gütiger Mann.
Dann war da jedoch die junge Frau in den Ort gekommen. Sie war bildhübsch und verdrehte gleich allen Männern den Kopf. Auch der Graf blieb von ihrem Reiz nicht verschont. Schon bald gab es Gerede, denn eine solch hübsche Person musste doch eigentlich einen Ehemann haben. Es ging doch gar nicht anders. Etwas merkwürdig war es schon.
Nach ihrem Namen gefragte antworte sie: "Julia. Ich heiße Julia."
Zuerst war das Mädchen bei der Schneiderfamilie untergekommen, der sie auch bei ihrem Tagewerk behilflich war. Dafür erhielt sie Kost und Unterkunft.
Doch dann wurde alles anders. Da sich die Männer - verständlicherweise - zu Julia hingezogen fühlten, wurden deren Ehefrauen eifersüchtig. Das Mädchen selbst wollte jedoch auch nichts von den Männern wissen, so dass die Abgewiesenen auch wütend auf sie wurden. So waren es nach kurzer Zeit schon zwei Parteien, die gegen Julia ankämpften.
Das war aber noch nicht Alles: Der Auslöser für die Berufung des Inquisitors war die Zurückweisung des Grafen!
Das Mädchen war bestimmt mit dem Teufel im Bunde. So musste es sein!
Deswegen führte also nun Zadoks Weg nach Hammerweiß. Er sollte über die Hexe richten.
In der Nähe des Dorfes machten die Männer um den Inquisitor noch einmal Halt. Der Mönch wollte die Fakten, die er bis jetzt hatte, aufarbeiten, um dann ans Werk zu gehen. Er war so in seinen Gedanken versunken, dass er das kleine Mädchen (es mochte wohl vier Lenzen zählen) erst spät bemerkte. Es stand schon eine ganze Weile da und sah ihn interessiert an.
Das Mädchen fühle nun die Augen auf sich ruhen, und der finstere Blick des Mönches wurde von ihr erwidert. Nicht einen Funken Angst oder gar Hass traf den Mönch.
Das kann nicht sein, dachte er. Alle haben Angst vor mir. Warum dieses Kind nicht?
Das war für den Mann wirklich eine Erfahrung.
"Was willst du?" raunte er und versuchte seine Stimme unheilvoll klingen zu lassen.
Doch das Mädchen sah ihn nur an und erwiderte nichts.
Zadok meinte ein Funken von Belustigung aus den Augen blitzen zu sehen, und Zorn stieg ihn im Hoch. Das Gefühl breitete sich aus den Eingeweiden heraus in das Hirn hervor. Es würde nicht viel fehlen und der Mönch würde explodieren. Ein Funke nur, ein kleiner Funke.
Doch der kam nicht.
Je mehr das Mädchen einfach nur schaute, desto zorniger wurde der Mann. Er wollte gerade seinem Zorn Luft machen, da verschwand das Mädchen im Wald. Es schien so, als habe es nie existiert.
"Das werden mir die Bürger von Hammerweiß büßen," murmelte er. "So darf nicht einmal ein Kind mit mir umspringen."
Mit barschen Worten befahl der Inquisitor seinen Mannen aufzusatteln. Dann ging die Reise weiter. Nach einer guten Stunde waren die Häuser des Dorfes zu erkennen. Über dem Ort thronte auf einem Hügel die Burg des Grafen. Dort wollte der Mönch zuerst hin.
Als die Gruppe nun durch das Dorf ritten war alles anders als sonst: Diesmal funkelte der Hass in den Augen des Inquisitors und nicht der Bewohner. Mit Genuss weidete sich der Mönch an deren Ängste, die ihnen ins Gesicht gebrannt waren. Man hatte schon viel über Zadok gehört - auch über seine Aura; aber so hatte ihn sich keiner vorgestellt. Die Angst ging um in Hammerweiß......
*
Die Burg des Grafen sollte für Julia die Richtstätte werden. Zadok ließ alle "Zeugen" auf die Burg bringen, und hörte sich jedes ihrer Worte an. Selbstverständlich waren alle Dinge gelogen: Kein Mädchen konnte auf einem Besen fliegen, oder mit Geistern sprechen (so behaupteten jedoch die Leute). Der Inquisitor bemerkte nicht, wie er von den Dorfbewohnern zu dem Todesurteil hingezogen wurde. Die Aussagen schienen die Lage genau zu klären. Das Mädchen musste einfach eine Hexe sein. Also sollte sie auch sterben.
Es war schon dunkel und Zadok lag wach in seinem Bett als er merkte, dass er nicht mehr allein im Gemach war. Ein leiser Hauch zischte an seiner Wange vorbei und ließ ihn erschauern.
Da stand auf einmal das kleine Mädchen an seinem Bett. Es strahlte ihn an. Das Gesicht war so rosig und voller Heiterkeit, dass der Mann von einem Augenblick zum anderen seinen Zorn vergaß.
Die Kleine zog ihn in seinen Bann.
"Wie bist du hier hereingekommen?" fragte der Mönch und blickte in das zarte Gesicht.
Das Mädchen stieß ein heiteres Glucksen aus. "Durch die Tür. Wie jeder normale Mensch auch. Oder meint ihr etwa, ich könne fliegen?"
Die Antwort überraschte Zadok etwas und er merkte gar nicht, wie gut das Mädchen für sein Alter sprechen konnte. Die Worte waren sehr weise gewählt als ob der Körper nur die Hülle eines viel älteren und weiseren Geistes war. Das entging aber dem Inquisitor.
"Wie heißt du und wo kommst du her? Was willst du?"
"Oh je, das sind aber viele Fragen. Ich werde sie dir alle beantworten und noch viel mehr", meinte das Mädchen und setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett. "Also, ich bin Zoe und komme von weit her. Meine Eltern sind hier auf der Durchreise. Die letzte deiner Fragen ist ebenfalls leicht zu beantworten: Ich will mit dir reden!"
"Ohne Grund? Einfach nur so?" Der Mann schüttelte den Kopf.
Wieder drang das herzliche Glucksen an das Ohr des Inquisitors.
"Oh, nein. Ich habe meine Gründe. Du bist vom Weg abgekommen, und ich möchte dich dorthin zurück führen."
"Was kann mir denn ein Mädchen schon beibringen?"
"Die rechte Sprache."
Zadok schüttelte den Kopf. "Sprache? Ich spreche richtig. Fließend Latein, Griechisch, Spanisch und Gotisch. Reicht das nicht? Augenblick mal!" Da erst wurde dem Mann der seltsame Umstand bewusst. "Du redest wie ein Weiser. Dabei bist du doch erst vier, höchstens fünf."
Jetzt brach schallendes Gelächter aus dem Mund des Mädchens hervor. "Das hat aber lange gedauert, oh großer Inquisitor Zadok von Mühlheim." Als Zoe seinen Namen aussprach tropfte Spott mit aus dem Mund des Mädchens.
Das brachte den Mönch zum Nachdenken.
"Was meinst du? Du sprachst von dem rechten Weg", fragte er. "Ich habe immer auf Gottes Weg gewandelt. Ich bin nie von ihm abgewichen. Ich habe sogar für ihn gekämpft und seine Feinde - die Hexen, Teufel und anderes Gesinde - verurteilt. Alles um unseren Heiland ein glückliches Leben zu verschaffen."
Jetzt wurde das Mädchen ernst, und es sprach: "Genau das ist es ja. Bald feiern wir ein großes Fest, das Fest der Geburt unseres Herrn. Ein Fest der Liebe und Hoffnung für alle. Doch du, du zerstört diese Feier mit deinem Tun. Du willst die junge Frau töten!"
"Das ist es also! Ich dachte wirklich einen Augenblick, Gott hätte dich gesandt, doch nun merkte ich, dass du in Wirklichkeit nur ein Mädchen bist, das von der Hexe verzaubert wurde. Du sollest mich umstimmen!" rief Zadok aus.
Als er jedoch die Wachen rufen wollte, hielt ihn die Stimme des Mädchens wie Fesseln zurück: "Du Narr! Weißt du was mein Name bedeutet? LEBEN. Der kommt nicht von ungefähr."
Dann verschwand sie wieder so geheimnisvoll, wie sie gekommen war.
Noch lange blieb der Mönch wach. Es kamen ihm Zweifel.
Was ist, wenn sie doch Recht hat? fragte er sich. Sie sprach davon, dass ich vom Wege abgekommen sei. Dabei war doch mein Weg der Richtige, oder?
So sehr der Mönch auch versuchte, die Zweifel zu verdrängen, gelang es ihm nicht. Immer wieder drangen die Gedanken in seinen Kopf und ließen ihn lange nicht schlafen.
*
Die Tage und Nächte zogen dahin, und das Mädchen erschien Zadok jedes Mal.
Tagsüber grübelte der Mönch über die Dinge nach, die er des Nachts von Zoe gehört hatte. Diese Gespräche waren voller Philosophie und Harmonie, dass er schließlich einsehen musste, wie Recht die Kleine hatte.
Er war vom Wege abgekommen und hat unschuldige Menschen in den Tod getrieben; verurteilt. Das Unrecht konnte er zwar nicht wieder gut machen, aber ein Leben konnte er doch retten: Das der jungen Frau.
Rasch zog er sich an und lief den Hügel zur Stadt hinab. Doch schon bald drang Brandgeruch in seine Nase und er spürte, dass er zu spät gekommen würde. Die Dorfbewohner hatten selbst über die Hexe gerichtet.
Zadok stand auf dem Marktplatz und blickte in die Flammen. Dort sah er nur noch den zuckenden und sich unter Schmerz windenden Schatten der Frau. Es war vergebens gewesen. Seine Seele würde nie gereinigt werden.
Tränen schossen ihm in die Augen und die harten Gesichtszüge wurden weich - sehr weich.
Plötzlich schrie Zadok auf. Die Menschen um ihn herum wichen ängstlich zurück.
"Was habt ihr getan? Ihr hattet kein Recht auf den Tod dieser Frau. Ich habe noch nicht über sie gerichtet."
Die Worte drangen wie Donnerhall über das Land und alles Getier und die Menschen verstummten.
"Die Frau war unschuldig! Sie hat die Männer durch ihre Schönheit betört. Das ist richtig, aber ist das ein Verbrechen? Nein. Gott hat sie schön erschaffen, so anmutig. Es war Gottes Wille. Er wollte euch testen, und ihr alle habt versagt. Auch ich. Es gibt keine Hexen! Es gibt keine Zauberer, die mit dem Teufel buhlen. Der Teufel ist in jedem von euch. Es ist das Böse im Menschen! Das habe ich jetzt eingesehen. Ja, auch in mir ist er. Ich habe lange Unschuldige im Namen Gottes gerichtet - falsch gerichtet. Wenn also der Teufel in mir ist, bin ich kein Mönch mehr, sondern ein Hexer! Und das musste mir erst ein vierjähriges Mädchen erklären."
Mit diesen Worten ging Zadok zu dem Scheiterhaufen hin, stieg hinauf und verschwand in den Flammen.
Ein Raunen ran durch die Menge. Plötzlich verstanden alle, was der Mönch gemeint hatte.
Keiner bemerkte das kleine Mädchen, das im Schatten eines der Häuser stand und lächelte....
Das war aber noch nicht ganz das Ende der Geschichte.
Der kleine Ort Hammerweiß wurde zum Hort des Lichts in dem finsteren Mittelalter. Hier versammelten sich die Menschen, die wieder auf den rechten Weg gelangen wollten. Hier entstand das Zentrum der Liebe, der Harmonie und der Freude.
In Hammerweiß wurde das Wort Gottes umgesetzt, egal wie man ihn nennen mag.
Jeder sollte sich in dieser weihnachtlichen Zeit mal fragen, ob sein Herz nicht auch groß genug ist für den Ort Hammerweiß.